Matthias Jung


 

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Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

Domino-Day.

Predigt über 2. Korinther 5,19f. an Karfreitag 2010

 

Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
(2. Korinther 5,19-20)

 

Liebe Gemeinde,

Jesus trägt die Sünde der Welt, am Karfreitag stirbt er am Kreuz, nimmt sein Leiden in Kauf, um uns zu erlösen von der Macht der Sünde. So haben wir es gelernt, und so ist es ja auch. Allerdings haben wir ein Problem mit der Sünde. Nicht nur, dass das Wort "Sünde" in unserer alltäglichen Sprache völlig abgegriffen ist. Das wäre nicht so schlimm. Dass aber wir in unserer Tradition vielfach nur einen Teil der Sünde wahrnehmen, dass ist eher ein Problem. Jesus trägt die Sünde, da denken wir Christinnen und Christen an unsere persönliche Schuld, an die größeren oder kleineren Verfehlungen, an das, was wir falsch machen oder besser hätten tun sollen. Das ist alles auch Sünde, aber Sünde ist viel mehr als die Summe all unserer Fehltritte.

Die hebräische Bibel, unser Altes Testament und auch die griechische Sprache des Neuen Testaments haben eine ganze Reihe von Wörtern, wenn sie versuchen, in Worte zu fassen, was Sünde ist. Und das geht alles weit über die einzelnen Verfehlungen vor mir und dir hinaus. Alle haben sie eins gemeinsam: sie beschreiben, was passiert, wenn der Mensch sich von seinem Ursprung löst, und so das Ziel seines Dasein verfehlt - mit Gott und seinen Mitmenschen in Liebe zu leben.

Ich habe diese Woche lange nach einem Bild gesucht, welches uns das "Mehr", das "Andere" der Sünde gegenüber den persönlichen Zielverfehlungen anschaulich vor Augen stellen könnte. Mir ist eins eingefallen. Und zwar brauchen wir dazu ein paar Domino-Steine.

Vielleicht können Sie sich noch erinnern: Vor zwei drei Jahren gab es den sogenannten "Domino-Day". Als Kinder haben wir das früher in Klein gespielt: Domino-Steine in einer langen Reihe aufstellen und dann mit einem Finger den ersten umzustoßen, der dann eine Ketten-Reaktion in Gang setzt und möglichst die ganze Reihe umwirft. Das klappte, wenn ich die Steine im richtigen Abstand aufgestellt hatte. Domino-Day ist das in Groß: Da wurden in einer riesigen Halle Abertausende Domino-Steine in langen Reihen und komplizierten Figuren aufgebaut. Irgendein Promi durfte dann den Anstoß geben und die Steinreihen fingen an zu fallen, das dauerte mitunter mehrere Stunden. Ziel war es immer einen neuen Weltrekord aufzustellen...

Liebe Gemeinde, was die Bibel unter Sünde versteht, hat viel mit so einem Domino-Day zu tun. Sünde ist so eine Kettenreaktion. Einer gibt einen Anstoß und es kommt eins zum anderen, wer Täter und wer Opfer ist, kann oftmals nicht mehr unterschieden werden - jeder Stein wird erst selbst umgestoßen und wirft den nächsten wieder um und so weiter und so weiter...

Nehmen wir die unsägliche Finanzkrise als Beispiel. Wahrscheinlich wäre es möglich, genau die eine Transaktion oder was auch immer zu bestimmen, die im Herbst 2008 den Kollaps unseres Bankensystems ausgelöst hat. In einer riesigen Kettenreaktion raste die Krise um unseren Globus und riss alles mögliche mit in den Abgrund... Noch bis heute fallen Steine um, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Doch ist dieser eine Banker daran alleine schuld? Hat nicht das Ganze auch eine Vorgeschichte? Und auch die Folgen dieses Zusammenbruches - alles nur die Schuld eines einzelnen Menschen? Oder war er wie viele, viele andere verstrickt in ein gigantisches Netz von Gier, an dem unzählige Menschen beteiligt waren, risikobereite Banker, zockerbereite Anleger, blauäugige Häuslekäufer, wegschauende Politiker...? Schon 1987 habe ich ein Buch gelesen, das in etwa vor solch einer Krise warnte... Dieses ganze Gestrüpp von Gier, Casinomentalität und anderem mehr hatte unabsehbare Folgen und brach wie ein Verhängnis über groß und klein, über Mitverantwortliche und Unschuldige herein... Domino-Day.

Ich glaube, Sie ahnen schon, was das mit Sünde zu tun hat. Einer macht einen Fehler und gibt einen Anstoß (nehmen wir der Einfachheit halber Adam und Eva) und das hat unabsehbare Folgen. Menschen werden mit hinein gerissen, wo Schuld und Unschuld, eigenes Versagen oder eher Verhängnis im Spiel sind, lässt sich kaum mehr sagen. Die Folgen sind oft schrecklich, Leid, Verzweiflung, Angst...

Bei Jesus war es doch auch so. Natürlich könnten wir die Hohenpriester, Pilatus, Herodes für sein Todesurteil verantwortlich machen. Aber einen allein? Und hinter ihnen steht zugleich eine lange Geschichte, Verpflichtungen, Traditionen, Gesetze, vielfach mit guten Absichten und Zielen, die mit dafür verantwortlich sind, dass so gehandelt wurde. Menschen sind immer auch Produkte ihrer Zeit, damals wie heute. Daher, und da will ich drauf hinaus, spricht die Bibel bei Sünde weniger als Schuld, sondern viel eher von einem Verhängnis, als etwas, das über den Menschen kommt. Wie ein Tuch, dass sich über die Menschen legt und alles einhüllt; ein Nebel, der buchstäblich die Sicht vernebelt und durch jede Ritze unaufhaltsam dringt.... Oft kommt die Sünde mit einer Macht, gegen die es schwer ist, sich zu wehren. So wie beim Domino-Day: schneller als er gucken kann, hat der angestoßene Stein den Impuls an den nächsten weiter gegeben.

Heißt das nun: ach, dann kann ich ja machen, was ich will? Ich kann eh nichts dran ändern? Dann fröhlich drauf los gesündigt! Das Leben ist kurz! Wie ist das denn dann mit der persönlichen Schuld? Hat die keine Bedeutung mehr, wenn die Sünde doch wie ein Verhängnis über mich kommt...?

Die persönliche Schuld ist nach wie vor vorhanden, aber sie ist in einen größeren Zusammenhang gestellt. Und sie ist vor allem sehr schwer zu zuschreiben. Wer ist denn nun "wirklich" schuld am Tod Jesu? Die Hohenpriester? Pilatus, der römische Machthaber? Das Volk, das seinen Tod fordert? Kann man es wirklich auf eine Person zuspitzen? Sind sie nicht alle irgendwie schuldig? Und der arme Banker, der den Topf zum Überkochen brachte, ist der allein schuld? Wenn nein - ja, wie wollen wir das dann aufdröseln? In unserem Rechtssystem, vor Gericht, wird das ganze Dilemma deutlich, wenn nach Schuldfähigkeit, nach Zurechnungsfähigkeit gesucht wird oder nach der angemessenen Bestrafung. Vor Gott haben wir es da leichter, Gott sei Dank! Jesus hat unsere Sünde getragen, auf das wir mit Gott versöhnt sind und so sind wir eingeladen und - Tag für Tag aufs Neue - uns mit ihm und untereinander versöhnen zu lassen. Die Sünde ist besiegt, die Schuld ist vergeben, Punkt, aus, Schluss. Das ist wichtig vor allem für diejenigen, die sich mit Schuldgefühlen herumquälen: die Sünde ist besiegt, Schuld ist vergeben. Das glauben zu können, ist oft schon schwer genug, weil das gegenseitige Aufrechnen, das Wieder-gut-machen-wollen so tief in uns drin sitzt. Und für die Selbstzerfleischer, welche die Schuld vor allem immer bei sich selber suchen und oft vor Schuldgfühlen kaum noch atmen, geschweige leben können, hat Martin Luther einst das freche, aber ermutigende Wort geprägt: Sündige tapfer drauf los!

Liebe Gemeinde, wenn wir über das Netz der Sünde anfangen nachzudenken, kann einem ganz schlecht werden. Wir alle sind in alle möglichen großen und kleine Dinge mit verstrickt, die uns und anderen das Lebens schwer machen, da können wir sagen, was wir wollen. Und das ist viel, viel mehr als unsere kleinen eher moralischen Vergehen, die damit allerdings nicht verniedlicht werden. Aber wir müssen und können uns auch dem größeren Zusammenhang stellen, denn:

Jesus hat die Sünde der Welt getragen, vielleicht besser: er-tragen, nicht nur die persönlichen Verfehlungen (die natürlich auch!), sondern auch die großen Zusammenhänge. Deswegen schreibt Paulus zu Recht: Gott versöhnte die Welt mit sich durch Jesus. Er hat an dem Glauben an die Liebe Gottes festgehalten, bis zum Schluss. Dazu hat Gott ja gesagt. Und wir sind eingeladen, das zu glauben, darauf zu setzen: das ist der Beginn der Versöhnung.

Und seither gibt es Hoffnung. Im Sinne von der Erleichterung, dass unsere Sünde getragen ist. Zugleich aber auch in dem Sinn, dass es hie und da möglich ist, die Kettenreaktion zu unterbrechen und einen neuen Anfang zu setzen. Im Kleinen wir im Großen. Halte ich beim Domino-Day nur einen Stein fest - so stoppt die Kette hier und setzt sich nicht fort. Das heißt dann doch: da kann sich etwas Neues entwickeln, was dann auch wieder größer ist als ich selbst, vielleicht sogar eine neue Kettenreaktion in Gang setzt, nun aber mit guten und heilvollen Folgen. Damit sind wir dann aber schon über den Karfreitag hinaus und schauen nach vorn auf den Ostermorgen.

Amen.